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Roederer Cristal: das Projekt Bio-Bombe

Jean-Baptiste Lecaillon, erleuchteter Kellermeister bei Roederer.
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Der Captain trank den eben freigegebenen Cristal-Jahrgang 2012 von Louis Roederer. Dieser legendäre und teure Champagner entstand aus Angst vor einem Bombenanschlag und soll in ein paar Jahren bio sein.
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[Dieser Artikel erschien im Herbst 2020] Es ist Abend. Heute war ein anstrengender Tag an Bord. Der Captain kommt direkt aus einer Champagner-Verkostung mit Jean-Baptiste Lecaillon, dem genialen Chef de Cave von Louis Roederer, der einem Grüppchen Weinjournalisten den brandneuen Jahrgang 2012 der sauteuren Schaumweinlegende Cristal vorstellte. Alles via Zoom natürlich. Die Flaschen wurden rechtzeitig an die Teilnehmer verschickt. Ein halbvolles Glas Cristal steht neben dem Captain, während er diese Zeilen tippt. Was für ein göttliches Getränk! Siehe Verkostungsbericht unten.

Immer wenn der Captain an Roederer denkt, kann er sich ein boshaftes Schmunzeln nicht verkneifen, doch dazu später mehr. Heute Vormittag sprach der Captain lange mit der Chefsommelière Stefanie Hehn, die im Hamburger Luxushotel Fontenay des Milliardärs Klaus-Michael Kühne Regie im Weinkeller führt und soeben die Master-Sommelier-Prüfung bestand, die (neben dem Master of Wine) zur schwersten aller Hürden für Hardcore-Weinprofis gilt. Ganze 8 Jahre hat die Selbst-Ausbildung gedauert. Neben dem Job wohlgemerkt. Der Lohn ist ein Titel wie Donnerhall, vor dem sich Weinmenschen demütig in den Staub werfen, weil man sehr viele Weine blind erkennen muss. Also Rebsorte, Herkunft, Lage und Qualitätsstufe. Mit Stefanie gibt es in Deutschland jetzt 6 MS. Hut ab! Mehr zum Thema demnächst im Interview mit dieser jungen und ehrgeizigen Sommelière, die ganz sicher mit dem Cristal von Roederer eng vertraut ist, denn Stefanies Gäste im (derzeit geschlossenen) Fontenay können sich dieses Getränk (bald bio!) locker leisten.

Wieso bio, etwa weil das schick ist? Nein, der Klimawandel bringt auch die Champagnerwinzer in Bedrängis, weshalb man bereits seit dem Beginn des Jahrtausends nach Strategien sucht, der Erderwärmung zu begegnen, die genau jene Frische und feine Textur bedroht, die Champagner von jeher ausmacht. Dazu gehören neue Traubenzüchtungen, fortschrittliche Methoden der Bodenbearbeitung und so weiter. Und natürlich Bio, wie nun auch bei Louis Roederer. Ein Kollege von Jean-Baptiste erklärt hier, wie das geht:

Ruinart das Klima den Champagner?

Ab dem Jahrgang 2021 ist Roederer teilweise bio-zertifiziert. Genauer gesagt: etwa die Hälfte der Trauben aus den eigenen Reb-Anlagen. Der vorläufige Endpunkt in einem Prozess, der vor vielen Jahren angestoßen wurde. Wie Robert Oppenheimer mit seinem Team Nuklearwissenschaftler in der Wüste von New Mexico, begann Jean Baptiste Lecaillon um das Jahr 2000 an der Super-Bio-Bombe zu basteln. Heißt: Ab 2027 oder 2028 wird es den Cristal in bio geben. Falls nichts dazwischen kommt. So lange müssen die Grundweine des Cristal reifen.

Nun zu meiner kleinen Geschichte, die ich nicht ohne ein gewisses Gefühl der Schadenfreude erzählen kann. Wahrscheinlich werde ich jetzt nie mehr zu einer Cristal-Verkostung eingeladen. Aber für dich und die anderen Leser nehme ich das auf mich, denn guter Journalismus bedeutet für eine Story Freundschaften opfern zu können. 2006 sagte der (noch immer amtierende) Louis-Roederer-Chef Frederic Rouzaud in einem Interview mit „The Economist“ einen denkwürdigen Satz, der ein bisschen Weingeschichte schrieb. Frederic kommentierte die Tatsache, dass sein Cristal-Champagner auffällig gerne in der schwarzen Rapper-Szene abgefeiert wird, mit den abfälligen Worten: Was sollen wir tun? Wir können denen nicht verbieten, ihn zu kaufen.

Es ist nicht schwer zu verstehen, dass dies als Rassismus aufgefasst wurde. Oder zumindest als Respektlosigkeit gegenüber der stolzen Rapper-Kultur. Fazit: Der schwerreiche Rapper Jay-Z kaufte sich kurzerhand seine eigene Champagnermarke Armand de Brignac und lässt dort von der Familie Cattier die kostspieligen Ace-of-Spades-Champagner herstellen und macht damit Roederer Konkurrenz:

Die Champagner-Rache

Das hat style, findet der Captain und hat noch eine Story auf Lager. Die Ursprungsgeschichte des Cristal hat nämlich einen mörderischen Hintergrund. Der Cristal entstand aus Angst vor einem Bombenanschlag. Kein Witz. Während der Pariser Weltausstellung 1867 kam es auf Anregung des Hohenzollern Wilhelm I. (damals noch nicht Kaiser) zu einem spektakulären Bankett – dem Dîner des trois empereurs, an dem nebst Wilhelm die beiden Romanovs Alexander II. und sein Sohn Zarewitsch Alexander teilnehmen sollten. Der unvermeidliche Otto von Bismarck (ein hemmungsloser Vielfraß) war natürlich auch eingeladen. Auf Wunsch Wilhelms durften keine Kosten gescheut werden. Nur das Beste war gut genug. Das Dinner dauerte 8 Stunden und bestand aus 16 Gängen mit 8 Weinen. Einer davon war die eigens kreierte Champagner-Cuvée Cristal aus dem Hause Louis Roederer in einer völlig durchsichtigen Flasche aus weißem Bleiglas. Grund dafür waren Sicherheitsbedenken. Alexander fürchtete ein Attentat. In den üblichen Flaschen aus dunklem Grünglas hätte man eine Bombe verbergen können. Ein flämischer Glashersteller wurde beauftragt, das Problem zu lösen. Voilá – so kam es zum Namen Cristal.

Unter den Luxuschampagnern hat der Cristal den Ruf, Finesse und Wumms meisterhaft zu vereinen. Die Trauben werden später geerntet als sonst in der Region üblich. Etwa 30% der 2012er-Grundweine vergoren in Eichenfässern, nicht aus Geschmacksgründen, sondern um die Textur zu konturieren. Als größten Fehler beim Genuss des Cristal nennt Jean-Baptiste diesen: zu warmes Trinken! Seine Empfehlung: Mach die Flasche zwei Stunden vor dem Trinken auf, aber lass sie im Kühlschrank stehen. Nimm sie 15 Minuten vor dem Einschenken raus.

Der Captain tat, wie ihm geheißen, weil er das immer so bei Schaumwein macht, und fand die Wandlung des Getränks faszinierend. Vom zitrig-kalkigen Frischeparadies hin zum opulent-gelbfruchtigen Trinkerlebnis. Jean Baptiste: Ich glaube, bei 12 Grad Wärme schmeckt er am intensivsten.

Schmeckt dein Champagner komisch?

Ich habe keine Ahnung, wie der Cristal zur Zeit seiner Erfindung schmeckte. Damals waren 100 Gramm Dosage-Zucker im Schaumwein keine Seltenheit. Heute ginge das nicht mehr. Die Trinkgewohnheiten haben sich geändert. Aktuell enthält der Cristal knapp über 7 Gramm Zucker. Und so schmeckt der Prickler jetzt: Im Glas messingfarben mit blitzenden Reflexen, superfeine Perlage. In der Nase der Duft von frischer Zitronentarte und Aprikose satt. Dann Marzipankartoffel, Bratapfel, Zimtstern, Griesbrei und etwas frische Hefe. Was für eine abenteuerliche Vielfalt! Im Mund zunächst enorm zitrig mit klaren Limette-Tönen, dabei irre frisch und ein bisschen salzig. Am Gaumen gelbfruchtige Opulenz, die wächst und wächst, je wärmer das Getränk wird. Unglaublich intensiver Schaumwein, der die sensorische Intensität von drei Champagnern auf einmal zeigt, die irgendwie in einer Flasche zusammengepresst wurden. Man möchte nur nippen und dieses konzentrierte Geschmackserlebnis in kleinen Dosen genießen. Bei zunehmender Temperatur nochmal eine Extraportion Aprikosenmark und fein gesponnene Bitternoten, die jeder Schluck wie einen Schleier hinter sich herzieht, während er im Schlund verschwindet.

Der Begriff Dosage bezeichnet die Zugabe von Zucker zu vergorenem Wein und wird hauptsächlich bei der Bereitung von flaschenvergorenen Schaumweinen wie Champagner oder hochwertigem deutschen Sekt verwendet. Man unterscheidet zwischen der Füll-Dosage (Liqueur de tirage), die dem vergorenen Grundwein zugesetzt wird, um zusammen mit Hefe die zweite Gärung in der Flasche auszulösen. Ist dieser Vorgang beendet und der Hefesatz entfernt, wird noch die Versand-Dosage (Liqueur d’expédition) hinzugefügt, die meistens aus süßem Wein und Rohrzucker besteht. Zum Thema Süße im Schaumwein schrieb ich einen Artikel, der endlich Klarheit schafft:

Sekt: Was ist der Unterschied zw. trocken und brut?

Das „Dinner der drei Kaiser“ wurde übrigens zum Erfolg. Obwohl Alexander darüber meckerte, dass es keine Foie gras gab. Kein Wunder, es war ja Anfang Juni. Die Köstlichkeit war früher nur in der kalten Jahreszeit verfügbar. Der Cristal wurde erst nach 1945 kommerziell vermarktet. Dafür schlug er um das Jahr 2000 umso heftiger ein. Dank diverser US-Rapper, die den Sprudel begeistert besangen: 50 Cent, The Notorious B.I.G., Sean Combs, Jay-Z. Geschichte ereignet sich in Spiralen, sagte der britische Universalhistoriker und Philosoph Arnold J. Toynbee und hier ist der Beweis. Das durchsichtige Weißglas der Cristal-Flaschen ist übrigens der Grund, warum dieser Schaumwein in eine UV-Schutzfolie eingewickelt wird (siehe Bild unten), denn Licht gehört zu den schlimmsten Feinden von Wein.

 

Datum: 12.12.2020 (Update 11.8.2021)
 

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