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Weingeschäft: Habt jetzt Mut!

Weinhändler Holger Schwarz.
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Wer kauft noch Wein, wenn sich keiner mehr auf die Straße traut? Na, jeder, der im Internet auch andere Sachen kauft. Leider sind nur wenige Winzer und Weinhändler darauf vorbereitet. Der Captain blickt in eine unsichere Zukunft der Weinwirtschaft.
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Der Captain ist in den USA gestrandet, von wo er wohl nicht mehr so schnell nach Hause kommt. Abgesehen davon, dass die Frage sinnlos ist, denkt er natürlich darüber nach, wo sich diese Katastrophe besser aussitzen lässt: In Miami Beach oder Berlin? Vor wenigen Tagen wurde Miamis Bürgermeister Francis Xavier Suarez positiv getestet. Und wie geht’s Herrn Müller in der Hauptstadt? Der klopft Sprüche: Die Stadt wird anders sein, aber es bleibt unser Berlin. Dann kann ja nichts passieren. Kling fast so gut wie Arm, aber sexy.

Von allen Bezirken Berlins ist Charlottenburg-Wilmersdorf zurzeit am härtesten betroffen. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl leben hier die meisten Infizierten. Mittendrin betreibt Holger Schwarz seinen Weinladen Viniculture.

Auf den ersten Blick ist Viniculture eine ganz normale Weinhandlung. Hell und einladend, das Personal freundlich und kompetent mit einem sehr individuellen Touch. Wie man sich halt in der hiesigen Weinszene gibt. Bloß nicht spießig wirken. Das Besondere an Holger Schwarz und Viniculture: Seit der Übernahme im Jahr 2006 beschränkt sich das Angebot auf die Naturweinszene. Das sind die Menschen, die Orange Wine und dergleichen herstellen. In diesem Artikel kommen einige Lieferanten von Holger zu Wort:

Deshalb machen wir Naturwein

Holger, dessen Großvater schon in der Pfalz mit Wein dealte, kam über Umwege zum Handel – aus der Gastronomie, wo er als Sommelier die Kunst des Weinverkaufens lernte.

Wie viele anderen Einzelhändler in Deutschland und der ganzen Welt blickt Holger seit einigen Tagen in einen tiefen, dunklen Abgrund. Er hat die Wahl: aufgeben oder kämpfen. Jeden Tag rechnet Holger damit, dass er seinen Laden per Dekret dichtmachen muss.

Zurück nach Miami, wo der Captain viel Zeit zum Nachdenken und Lesen hat. Da gibt es zum Beispiel die fantastische New York Times. Die kann man dank Internet natürlich auch in Berlin lesen, aber wer hatte dafür schon die Muse? Damals, bis vor zwei Wochen, als das Leben noch in der Spur lief. Beim Blättern in dieser Zeitung, die gratis im Beach House rumliegt, wo der Captain bis zur Schließung gestern Abend herumzulungern pflegte, fand er einen Artikel über den Ökonomen und Nobelpreisträger Paul Romer, von dem ein berühmtes Zitat überliefert ist:

Eine Krise ist eine schlimme Sache, die man nicht verschwenden sollte.

Womit wir wieder bei Holger Schwarz angekommen sind. Der verschickt seine Ware neuerdings gratis quer durch Deutschland, wenn man in seinem Onlineshop einkaufen geht. Oder bei ihm anruft. Innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings liefert Holger sogar direkt mit eigenem Fahrer. Ansonsten wird alles mit UPS versendet. Für null Aufpreis. Egal, wie hoch der Warenwert ist. Sogar einzelne Flaschen. Wie bei Amazon. Holger ist jedoch kein Milliardär. Ist Holger verrückt? Nein. Einfach nur mutig.

Endlich! Denkt der Captain. Endlich hat einer begriffen, wie man dem digitale Weinverkauf auf die Sprünge helfen kann. Eine globale Krise musste kommen, bis das geschah. Aus Neugier, ob es noch andere gibt, die jetzt ein kühnes Lebenszeichen setzen, wo praktisch nichts mehr zu verlieren ist, fragte der Captain auf Facebook nach Weinmenschen, die ähnlich denken und handeln. Das Ergebnis ist ernüchternd. Die meisten gehen auf Nummer Sicher und versenden erst ab einem bestimmten Einkaufsvolumen kostenfrei. So wie immer. Klar, warum auch nicht, wo der stationäre Handel gerade den Löffel abgibt? Ob dies der richtige Weg ist, eine Umwälzung wie diese zu bewältigen, wagt der Captain zu bezweifeln. Wäre jetzt nicht die Zeit, in der Krise nach der Chance zu suchen, kreativ zu werden und sich auf eine veränderte Welt einzustellen? Zum Beispiel den Kostenfaktor Gratisversand als Werbegeld abzubuchen.

Hier sind ein paar Mutige, die der Captain via Facebook einsammelte:

Weinverkauf: Wir versenden gratis!

Holger, erklär uns bitte, warum deine Aktion der richtige Schritt ist. Jetzt geht es ums Überleben. Im Laden ist nichts los. Auch die Gastronomie fällt als Abnehmer aus. Ich habe zwei Fahrer, die an die Restaurants lieferten. Die haben fast nichts zu tun. Wir versuchen, irgendwie die Leute zu beschäftigen und die Einbrüche aufzufangen. Deshalb versende ich alles gratis.

Hast du keine Angst, dass Menschen dein Entgegenkommen ausnutzen und Kleinstmengen bestellen, die den Verkauf zum Verlustgeschäft machen? Das ist bisher nicht geschehen. Es wäre mir auch egal.

Warum? Es geht jetzt darum, unsere Kunden weiterhin an uns zu binden. Wir müssen zeigen, dass wir noch da sind. Erst recht, wenn das Geschäft geschlossen wird.

Lächerliche 4% des Weinhandels an Endkunden laufen in Deutschland übers Internet, weiß das Deutsche Wein-Institut (DWI). Damit liegt der Markt weit hinter anderen Nationen wie England und Frankreich. Die wenigsten Winzer setzen sich mit den Möglichkeiten des digitalen Vertriebs auseinander, jammern über die Anlaufkosten und den Wettbewerb im Netz. Die digitale Rückständigkeit der deutschen Weinwirtschaft ist einfach nur verblüffend.

Verschlafen die Winzer das Internet?

Der Captain staunt immer wieder über die bodenlose Ignoranz vieler Hersteller und Händler gegenüber dem Internet und glaubt, dass die Krise (wenn sie nicht durch ein Wunder rasch vergeht) ungeahnte Verwüstungen anrichten wird. Und er meint, dass jetzt nur jene eine Chance haben, die elektronisch gut aufgestellt sind. So wie Holger Schwarz mit Webshop und eigenem Lieferservice. Mehr als die Hälfte der Bestellungen, die aktuell eingehen, liegen über 75 Euro, sagt Schwarz und liegt damit im schwarzen Bereich. Sehr witzig.

Im → Blogbeitrag eines Weinberaters aus dem Napa Valley stehen unter dem Titel „Weinmarketing in Zeiten von Covid-19“ ein paar Tipps, wie man sich den radikal veränderten Bedingungen stellt: Unsere Kunden sind gestresst und deprimiert. Dies ist nicht die Zeit, sich zu verstecken und aus dem Blickfeld zu geraten. Ich halte es für klug, jetzt noch sichtbarer zu sein. Wir Weinleute müssen die Menschen glücklich machen. Normalerweise geben sie Geld aus, um uns zu besuchen, sie lesen Zeitschriften und Bücher über Wein. Doch nun sitzen sie in ihren Häusern fest und haben Angst. Gib ihnen eine Alternative zu den Bildern von Menschen mit Masken und den Todeszahlen. Geh in die sozialen Medien. Sprich über die Natur. Zeig ihnen etwas, das sie beruhigt. Erhöhe deine Werbeausgaben, um Menschen zu erreichen, die daheim hocken und nicht raus können. Wenn du eine armselige Website hast und immer nur an deiner Laufkundschaft interessiert warst, wird das eine harte Zeit für dich. Gib trotzdem nicht auf. Mach Sonderangebote und modernisiere deinen Internetauftritt, sodass du im Frühling deinen Verkauf ankurbelst.

Der Captain garniert diesen Artikel mit einem, äh, natürlichen Sekt aus dem Webshop von Holger Schwarz. Es ist der grandiose Brut Nature (mit Grundweinen aus drei Jahrgängen) des Pfälzer Naturwinzers Sven Leiner: Dieser Demeter-Sekt aus gemeinsam vergorenen Chardonnay- und Spätburgundertrauben entstand ohne Zusatz von Schwefel und reifte in Fässern aus französischer und österreichischer Eiche. Im Glas trüb zwischen Gelb, Gold und Orange. In der Nase Rührei, Laugenbrezel, Apfelmost, erdig. Im Mund erfrischende Perlage und saftige Noten von gelbem Apfel, dann Orangenschale, die Rauchigkeit von Rohzucker, Malz, Meersalz, Zitronengras. Klingt gemütlich wie eine WG mit alternden Ökos, ist es aber nicht. Denn alles ist von herrlich straffer Säure dressiert, die wie eine Reitgerte über die Zunge schnalzt. Dieser Sekt vibriert im Glas.

Der Autor Marcus Johst ist Gründer von CaptainCork.

 

Datum: 6.4.2020
 

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