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Alles über Naturwein

Nicht jeder Naturwein ist Orange-Wein oder jeder Orange-Wein Naturwein.
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Warum ist Naturwein in Deutschland noch keine Selbstverständlichkeit? Sommelière Susanne Salzgeber geht der Frage auf den Grund.
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Ich trage keinen Vollbart und wohne auch nicht in Berlin-Neukölln. Aber ich bin IHK-geprüfte Sommelière und bekennende Naturwein-Trinkerin. Ja, so was gibt es. Auch wenn es für den einen oder anderen von euch unbequem ist, sich von lieb gewonnenen Klischees zu verabschieden – jetzt ist die Gelegenheit dazu.

Und ich setze noch einen drauf: Ich trinke auch konventionell vinifizierte Große Gewächse aus deutschen Landen und pestizid-belastete Premier Crus aus dem Bordelais. Und wenn ich Lust darauf habe, zische ich mir schon mal ein Glas fieses Sauvignon Blanc-Fruchtspektakel aus Südafrika rein. Warum denn nicht? Toleranz fängt beim Trinken an. Also lasst uns üben.

Ich schenke mir ein Glas Müller-Thurgau natur vom Bio-Weingut Schmitt aus Rheinhessen ein. Was sehe ich? Eine ins Orange tendierende trübe Brühe. Grund: Der Weißwein ist mit den Schalen vergoren. Nicht filtriert, nicht geschönt und ohne Schwefelzugabe abgefüllt. Dieser Naturwein ist ein Orange-Wein.

Das heißt aber nicht, dass jeder Naturwein ein Orange-Wein oder jeder Orange-Wein ein Naturwein ist. Orange-Wein stellt lediglich eine Methode der Weinbereitung dar.

Ich erkläre es euch: Weißweintrauben werden wie bei der Rotweinbereitung mit der Schale vergoren. So entzieht man den Häuten Farbstoffe, Phenole und Tannine, welche für die gelb-orange Farbe sorgen. Unter anderem halten sich die Weine damit stabil, wenn sie wenig bis gar nicht geschwefelt wurden. Deshalb bietet sich diese Spielart der Weißweinherstellung für Naturweinwinzer an. Immer mehr konventionelle Winzer produzieren auch Orange-Wein, weil sich die vierte Weinfarbe als eigener Weinstil durchgesetzt hat.

Polierte Brillanz findet man in Naturweinen nie. Fast nie, denn Absolutismen zählen in der Weinwelt nichts. Manche Weinkenner und alle Weinprüfstellen forden jedoch blitzblanke Weinchen ein. Obwohl Farbstoffe, Hefepartikel und andere Trübstoffe an der Geschmacksbildung beteiligt sind. Filtert oder schönt man sie raus, vertreibt man auch den Geschmack. Weiter zum Geruch. Ich wittere Hefebrotkruste, Orangenblüten, Apfelmost, undefinierbare Räuchernoten, Anis. Jeder entdeckt andere Aromen in so einem Naturwein. Ist das nicht wunderbar?

Naturwein schärft die Sinne, weil er alles durcheinanderbringt, was man als Weinkenner gelernt hat. Vielleicht ist das der Grund, warum einige Granden der deutschen Weinszene Naturwein verachten. Untergräbt er ihre Autorität?

An meinem Gaumen hinterlässt der Müller-Thurgau natur von Bianka und Daniel Schmitt Orangenzeste, Weihrauch und Fenchel. Nach ein bis zwei Stunden verändert sich der Wein wieder. Er ist lebendig. Das ist faszinierend. Und für viele neu. Den einen macht das Angst, den anderen Spaß. Warum Naturwein? Winzer Daniel Schmitt bringt es auf den Punkt:

Vergesst, was ihr über Müller-Thurgau wisst oder zu wissen glaubt. Probiert unvoreingenommen. Wo ist hier die typisch-florale Fruchtaromatik des Müller-Thurgau? Völlig egal. Dieser Bonbonzauber lässt sich auch mit Technik, Reinzuchthefen oder Enzymen herstellen. Aber das ist nicht, was Naturweinwinzer wollen.

Bianka und Daniel Schmitt lernten sich kennen und lieben, als die aus Ungarn stammende Bianka ein Praktikum im Weingut Schmitt absolvierte. Beide hatten ihre eigene Vorstellung davon, was es heißt, gute Weine zu machen. Auf den Naturwein-Stil konnten sie sich einigen.

Für Bianka war es nicht einfach, als Winzerin und Ausländerin in Rheinhessen akzeptiert zu werden. Verständlich, wenn man Weine macht, die anders sind als das Gewohnte. Einige Kunden des Weinguts hat das sehr erschreckt. Bianka erzählt von einem Erlebnis auf einer Weinveranstaltung, als sie schwanger ihre Weine ausschenkte. Ein Gast, männlich, Mitte 40, gut gekleidet, Bildungsbürger, Typ Weinkenner, schaute sich den trüben Wein im Glas skeptisch an und fragte mit einem anzüglichen Lächeln, ob sie etwa Muttermilch in den Wein gebe. Ja, schon verstanden, es war nicht böse gemeint. Nur ein kleiner Scherz. Dieser Scherz zeigt aber ganz gut die respektlose Haltung, die vermeintliche Kenner (meist männlich) gegenüber der Naturweinszene an den Tag legen. Weil dieser Stil nicht in ihr Welt- und Weinbild passt.

Bianka will, dass naturbelassene Weine akzeptiert werden. Genauso wie klassisch hergestellte Weine konventionell arbeitender Winzern.

Stefan Vetter, Naturwein-Winzer aus Franken sieht das ähnlich: Es ist absurd, dass der industrialisierte, mit Technik manipulierte, geschönte, mit Enzymen bearbeitete Wein als normal gilt und der unbehandelte Naturwein als schräg.

Da können sich die Naturweinfeinde noch so aufregen – in den angesagten Weinbars von New York, Paris, London, Kopenhagen und Berlin zählen Naturweinwinzer zu den Coolen. Apropos Kopenhagen. Dort gibt es dieses berühmte Lokal namens Noma. Anders Frederik Steen (ausgebildeter Koch) war dort Sommelier. 2013 begann er an der Rhône selber Wein zu machen, genauer gesagt: Naturwein. Heute ist Steen ein Weltstar der Naturweinszene. Für den Captain kleidete er seine Philosophie in wunderschöne Worte:

Zurück ins Naturweinland Deutschland. Für viele ist Naturwein eine Zumutung. Glatt und perfekt muss Wein sein und die Rebsorten immer klar zu erkennen. Genauso wie der Charakter einer Region. Das fordern die Apologeten des korrekten Weins. Naturweine sind für sie flüssiger Rückschritt.

Naturweinen werden häufig Weinfehler angelastet. Zu viel flüchtige Säure, Essigstich oder Uhu-Ton, der durch Ethylacetat hervorgerufen wird. Wenn man jedoch von Weinfehlern spricht, dann sollte man auch wissen, was das ist. Essigsäure entsteht, wenn angefaultes Lesegut nicht aussortiert, sondern mitverarbeitet wurde. Schlechtes Lesegut kann sich der Naturweinwinzer jedoch gar nicht leisten, weil er Most oder Wein nicht manipulieren will. Deshalb muss er im Weinberg viel Aufwand betreiben, um die Reben gesund zu halten und tadellose Trauben zu ernten. Zumal Naturweinwinzer ökologischen und viele sogar biodynamischen Weinbau betreiben, der keinen Einsatz von Fungiziden gegen Pilzkrankheiten erlaubt. Auch Herbizide und Insektizide gegen Lebewesen, die im Weinberg als schädlich oder lästig gelten, sind im Ökoweinbau verboten. Tja, da bleibt einem nur die Arbeit mit der Natur und nicht gegen sie.

Deshalb machen wir Naturwein

Ethylacetat, das so ähnlich riecht wie Uhu, entsteht auch, wenn sich die Gärung verschleppt, der Most zu lange rumliegt und dabei mit Sauerstoff in Verbindung gerät. Naturweine werden immer spontan vergoren, also ohne Zugabe von Reinzuchthefen, die eine schnelle, besser zu kontrollierende Gärung erlauben. Da kann es schon mal passieren, dass sich die Gärung hinzieht und am Ende dem Wein dieser Klebstoff-Geruch entweicht. Aus meiner Sicht kann dieser sogenannte Weinfehler bis zu einem bestimmten Grad sogar geschmacklich bereichernd sein und zur Vielschichtigkeit des Weins beitragen.

Ebenfalls bei Naturweinwinzern verpönt ist die Beigabe von Zucker. Man nennt das Aufzuckern des Mostes Chaptalisieren. In kühleren Regionen üblich und bei einfachen QbA (Qualitätsweinen bestimmter Anbaugebiete) auch erlaubt. Ziel ist es, genügend geschmacksverstärkenden Alkohol entstehen zu lassen. In Regionen mit viel Sonne fehlt eher die Säure und es wird zugesäuert. Aber auch das lehnen Winzer ab, die naturbelassene Weine herstellen. Sie wollen ehrliche Weine, die das Terroir und das Jahr wiederspiegeln, so wie es eben war.

Kommen wir zum viel diskutierten Schwefel-Einsatz. Absolute Naturwein-Puristen sagen: Nichts rein und nichts raus. Das heißt, auch keinen Schwefel zuzugeben, weder bei der Abfüllung, noch vor der Gärung. Schwefel hat aber die Aufgabe, frühzeitige Oxidation zu verhindern, er stabilisiert den Wein. Außerdem wirkt er antibakteriell und verhindert, dass Mikroorganismen unerwünschte Verbindungen eingehen, die den Wein stinken lassen.

Ob Schwefel zugegeben wird oder nicht, beeinflusst den Weinstil erheblich. Die meisten Naturweinwinzer fahren zweigleisig. Sie füllen Weine mit und ohne zugesetzten Schwefel ab. Ob wir bei der Abfüllung minimal Schwefel zugeben – höchstens 15 mg pro Flasche –, hängt vom Jahrgang ab und letztendlich von der Säure und dem Ph-Wert des Weins, erläutert Bianka Schmitt.

Aber Achtung: Weine ohne Schwefel gibt es nicht, denn Schwefel ist in der Natur allgegenwärtig, zum Beispiel auf Traubenhäuten. Und im Weinberg müssen auch Bio-Winzer in unseren Breitengraden Kupfer und Schwefel ausbringen, um ihre Reben gegen die gefährlichen Pilzkrankheiten echter und falscher Mehltau zu schützen.

Demeter-Winzer Thorsten Melsheimer aus Reil an der Mosel ist der Auffassung, dass man in Deutschland viel zu viel schwefelt und die Weine damit maskiert. Der Vade Retro ist sein radikalster Wein. Da kommt nichts rein und nichts raus. Es ist ein durchgegorener Riesling, der komplett ohne Schwefelzugabe abgefüllt wird. Melsheimers andere klassische Mosel-Rieslinge, vor allem die frucht- oder edelsüßen Tropfen, kommen nicht ohne Schwefelzugabe aus. Das wäre nur möglich, wenn Melsheimer im Keller komplett steril arbeiten würde. Ein irrer technischer Aufwand, der dem Naturwein-Gedanken total widerspricht.

Gesundheitlich bedenklich sind die Schwefelmengen nicht, die in jeder Flasche konventionell hergestellten Weins stecken. Außer für Schwefel-Allergiker.

Schwefeln oder nicht schwefeln, das ist hier die Frage. Peter Bernhard Kühn, Sohn von Kultwinzer Peter Jakob Kühn aus dem Rheingau, schwefelt und sieht sich trotzdem als Naturweinwinzer. Alles eine Frage behutsamer Dosierung, meint er. Wir wollen die Entwicklung der Weine nicht erschlagen. Jeder Jahrgang, jeder Wein hat ein anderes Verhältnis zu Schwefel, geht anders mit ihm um. Für Vater Kühn sind Naturwein und Präzision kein Gegensatzpaar, sagt er dem Captain. Es komme eben auf das Können des Winzers an:

Unbestritten ist, dass der Umgang mit Schwefel, die Weinwerdung maßgeblich beeinflusst. Und damit ist die bewusste Entscheidung eines Winzers, Sulfite zu meiden, eine Entscheidung für einen anderen Stil. Solche Weine schmecken häufig wilder und sie stinken. Lasst sie erstmal ein Stündchen auslüften, dann hört das Stinken meistens auf.

Naturweinwinzer lassen mit der Hand arbeiten und vergiften ihre Weinberge nicht. Das kostet Aufwand und Geld und treibt die Preise nach oben. Naturweine sind zu teuer, ruft manch Weinfreund. Der trübe Wein für 15 Euro gilt als Wucher. Derselbe jedoch blättert das Vielfache für Weine mit klingendem Namen hin und bezahlt mit dem Großteil des Geldes eigentlich nur ein Stück Papier, das auf der Flasche klebt. Das Insektensterben nehmen wir mit Schrecken zur Kenntnis, „Grand Cru Pestizide“ saufen wir weiter.

Weinbau ist Monokultur. Naturschutzgebiete sehen anders aus. Umweltschäden durch konventionellen Weinbau werden bislang nicht mit Zahlen belegt, ansonsten müssten wir Weintrinker für eine Flasche Wein sicher mehr berappen. Glaubt ihr wirklich, es macht keinen Unterschied, ob der Weinberg mit der Chemiekeule totgespritzt wird oder der biodynamisch arbeitende Winzer Präparate aus Kräutern, Hornkiesel und Hornmist einsetzt? Wer mehr über die biodynamischen Methoden wissen möchte, der klickt sich hier mal kurz zum Artikel des Captain über Demeter-Winzer Florian Fauth aus Rheinhessen:

Biowinzer mit Kontakt zum Kosmos

Man muss kein Anhänger der Anthroposophie Rudolf Steiners sein, um zu kapieren, dass es Kreisläufe in der Natur und Zusammenhänge zwischen allen Lebewesen gibt. Und es langfristig einfach schlauer ist, für einen lebendigen Boden und gesunde Pflanzen zu arbeiten als für mehr Ertrag und Profit. Im Weinberg Schäf von Thorsten Melsheimer wurde 20 Jahre lang keine Bodenarbeit durchgeführt, nur gemäht. Der Steillagen-Winzer zählte auf dieser Lage über 60 verschiedene Pflanzenarten, die in friedlicher Koexistenz mit den Rebstöcken leben.

Kluge Winzer sagen Beikraut. Andere sagen Unkraut und kämpfen es mit Herbiziden nieder, damit es den Reben die Nährstoffe nicht wegsaugt. Thorsten Melsheimer kommt die Rangelei gerade recht: Die Reben fahren ihre Erträge nach unten und das ist wiederum für die Qualität des Weins gut. Im Keller setzt der Demeter-Winzer auf Zeit. Bessere Qualität heißt für viele Naturweinwinzer langsamer werden, dem Wein Zeit geben. Dann braucht man auch die ganze Technik nicht.

Naturwein schließt keinen aus. Nicht die Anfänger und jene, die keine Ahnung haben von Wein. Oder sich nicht für Wein interessieren. Es ist egal, ob sie Böckser, flüchtige Säure oder Mäuseln als Weinfehler erkennen oder ob sie einfach nur cool finden, wie das riecht und schmeckt. Wichtig ist nur, dass der Wein in diesem Moment Spaß macht. Übrigens, auch Sekt kann man aus Naturwein machen. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte man den aber nicht Natursekt nennen:

 

Datum: 15.8.2020 (Update 2.9.2020)
 

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