X
Newsletter
X
X
Login
Passwort vergessen?


Konto erstellen

Wozu Jahrgangs-Champagner?

Wollen sie 88, 90, 96, 03 oder 08? Nein danke, kein Jahrgang bitte!
Kommentare
Ähnliche Weine
Ähnliche Artikel
Es gibt immer mehr Jahrgangs-Champagner. Was soll das teure Getue, das dem Geist großer Champagnerkunst total widerspricht?
Anzeige

Neulich erreichte den Captain eine E-Mail mit diesem Text: Champagne Charles Heidsieck zum zweitmeist-bewunderten Champagnerhaus der Welt gewählt.

Zugegeben, die Formulierung wirkt im Deutschen ein wenig holprig. Im Original steht: „Charles Heidsieck judged 2nd World’s most admired Champagne House.“

Eine 300-köpfige Jury des Magazins Drinks International fällte dieses Urteil. Normalerweise löscht der Captain solche Nachrichten sofort. Sie sind Wortmüll im endlosen Strom nie versiegender Selbstgespräche, in denen sich die Weinblase ihrer gefühlten Bedeutung versichert.

Die einschlägigen Weinmedien sind vollgestopft mit solchen Sinnlosigkeiten, die für normale Leser völlig unbrauchbar sind. So bedanken sich Verleger bei ihren Anzeigenkunden.

Aber diese Mail war besonders geschickt formuliert. Oder ungewollt einfach nur zu kurios, um sofort beseitigt zu werden. Zweitbestes Champagnerhaus der Welt! Warum nicht erstes? Und was genau belädt ein Champagnerhaus mit Weltgeltung?

Die Begründung steht weiter unten. Ausschlaggebend seien die Qualität der Markenstrategie und des Vertriebs. Das ist für Weingenießer irrelevant.

Aber dann kommt noch ein Argument: Qualität und Beständigkeit der Marke im Hinblick auf die jahrgangslosen Brut Cuvées und ihre Fortentwicklung im Laufe der Jahre.

Aha!

Das klingt nach interessantem Aufhänger für einen Artikel, den er schon lange schreiben wollte, dachte sich der Captain.

Denn er ist schon länger genervt vom Getue um Jahrgangs-Champagner, die er im Großen und Ganzen für einen Trick hält, um Endkunden das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Der Captain meint: Jahrgangs-Champagner widersprechen dem Geist, der die Champagne zu dem machte, was sie ist: eine Bastion der Beständigkeit in einer Weinwelt, die mehr und mehr der Modeindustrie gleicht. Guter jahrgangsloser Champagner ist Ausdruck einer großen Kunst. Nämlich jener, Grundweine unterschiedlicher Jahrgänge und mannigfaltiger Herkunft jahraus, jahrein auf eine Weise zu vermählen, die verlässlichen Genuss erzeugt. Punkt. Die Idee der Jahrgangs-Champagner steht diesem Konzept diametral entgegen.

Ja, natürlich gibt es großartige Jahrgangs-Champagner. Allerdings für horrendes Geld. Einige hat der Captain schon getrunken, zuletzt → Dom Ruinart Rosé 2004, wahrscheinlich der beste Rosé-Schampus der Welt. Kostet aber 200 Euro oder mehr
.
Rechtsanwalt Boris Maskow (einer der Champagner-Einflüsterer des Captain) nennt eine kleine Auswahl weiterer Jahrgangs-Lieferanten, die großen Stoff machen: Alfred Gratien, Salon, Krug. Zitat: Ganz nutzlos ist der Vintage nicht, wenngleich viel Schindluder damit getrieben wird.

Einer, der die Kunst der Non-Vintage-Assemblage meisterhaft beherrscht, ist Kellermeister Cyril Brun von Charles Heidsieck, den der Captain schon ein paar Mal traf. Hier erklärt Brun eine der wichtigsten Regeln für den gehobenen Schaumwein-Genuss, die selbstverständlich auch für Sekt gilt: Werft eure Flöten weg!

Was heißt Jahrgangs-Champagner genau? Das ist schnell erklärt: Die Trauben für die Grundweine eines Jahrgangs-Champagners (auch Vintage Champagner genannt) müssen komplett aus dem angegebenen Jahr stammen. Ausnahmen sind nicht erlaubt.

Was jahrgangsloser Champagner (Non-Vintage Champagner) bedeutet, ist komplizierter: Das Verschneiden unterschiedlicher Jahre ist hier die Regel.

Beim Non-Vintage Champagner sucht sich der Kellermeister aus allen verfügbaren Fässern des Hauses (aktueller Jahrgang und die eingelagerten Reserve-Weine vergangener Ernten) die erforderlichen Zutaten zusammen, um jene Würze zu komponieren, für die sein Arbeitgeber bekannt ist. Dieser enorm aufwendige und viel Erfahrung voraussetzender Vorgang heißt Assemblage. Er gleicht der Arbeit eines Parfumeurs.

Das Ergebnis ist der „goût de maison“, der Geschmack des Hauses. Das Ziel ist die totale Balance und Kontinuität über die Jahre und ihrer Wetterverhältnisse. Non-Vintage Champagner sind die Antithese zur postindustriellen Winzerromantik und ihrer Jahrgangs-Individualitäten, die hektisch beleuchtet werden wie jede neue Chanel-Kollektion.

Spricht man Tacheles mit einem Champagnerprofi, winkt der beim Stichwort Jahrgangs-Champagner meist genervt ab. Auf seiner jüngsten Reise durch die Champagne traf der Captain den jungen US-Franzosen Christian Holthausen, Markenchef bei AR Lenoble in Damery, eines der rund 300 Maisons der Champagne. Davor arbeitete der begeisterte Sporttaucher als Pressechef bei Pieper-Heidsieck und Charles Heidsieck. Zum Thema Vintage Champagner versus Non-Vintage Champagner sagt Holthausen:

Wir Champagnerleute beurteilen unsere Kollegen immer nur nach den jahrgangslosen Champagnern. Das ist unsere Genetik. Wir trinken die ganze Zeit nur Non-Vintage. Diese Weine sind viel komplexer und anspruchsvoller. Kein Mensch braucht Jahrgangs-Champagner!

Als leuchtendes Beispiel für köstlichen Non-Vintage Champagner bleibt der Captain bei Charles Heidsieck (gemäß E-Mail zweitbestes Champagnerhaus der Welt) und trinkt den leistbaren und erfrischenden Brut Réserve, der weitaus trockener schmeckt als er technisch betrachtet ist. Je nach Händler kostet der Schäumer ca. 45 Euro.

Ich stecke meine Nase ins Glas und kann mich gar nicht mehr davon lösen. Extreme Frische versetzt meinen Sinnen einen Mörderkick. So etwas erlebt man selten. Ich wittere frisch aufgeschnittene Limette, Butterbrot mit Schnittlauch drauf und eine tiefe Intensität, wie es beim Basisprodukt eines Champagnerhauses ungewöhnlich ist. Das kommt vom irre hohen Anteil (40%) an Réserve-Weinen, die für diese Schaumweincuvée (Pinot Noir, Chardonnay, Meunier) verwendet worden sind. Réserve heißt in diesem Fall durchschnittlich 10 Jahre lang gereift. Im Mund cremige Perlage, der vorhandene Dosagezucker (11 Gramm pro Liter) ist kaum spürbar, ich hätte eher auf 6 Gramm getippt. Im Mund wieder Limette total und Orangenzeste, Buttermilch, junger Camembert und ganz viel Klarheit und Frische. Im Abgang dann noch ein langes und fröhliches Servus.

Übrigens: Erster im Best-of-Ranking von Drinks International wurde Louis Roederer.

 

Datum: 8.3.2020 (Update 22.11.2021)
 

Ähnliche Weine

 

Ähnliche Artikel