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Der Ort: eine alte Brauerei mitten in Berlin. Ein Abrissbau, gleich hinter einem schicken und schwer angesagten Hotel. Gegensätze, die man in Berlin nicht lange suchen muss. Hinter einem Gittertor wartet ein typischer Berliner Hausmeister mit einer großen Tigerkatze, die er – ungelogen – als Wachhund einsetzt.
»Ähh, wat wollt ihr hier??«, fragt er knurrig. »Essen«, erwidern wir. »Dann kommt mal mit.«
Der Weg führt zu einer Nebentreppe, der Preußen-Concierge zeigt den Weg nach oben. »Da geht mal rauf, zweeter Stock, könnt ihr nich verfehlen.« Man kann das »Appartement« vor allem nicht überhören. Schon unten wummern sanfte Beats.
Oben angekommen bleibt die Musik aber erstaunlich leise. In einem großen Raum lehnen etwa vierzig junge Menschen an violetten Wänden. In einem zweiten Raum steht ein großer gedeckter Tisch, auf dem Yen (36), Koch und Eigentümer des Apartment, in wenigen Minuten ein Menü servieren wird: Bavette mit getrockneten Tomaten, Bayrische Knödel, mit Rotwein angemachte Pasta Asciuta, und in Butter herausgebackene Äpfel mit geröstetem Sesam. Zu den Äpfel etwas Rum.
Die Gäste zahlen nichts. Das Apartment ist kein Restaurant. An der Bar werden stattdessen kostenpflichtig Getränke abgegeben. Damit wird hier der Unterhalt verdient. Gewinn macht das Apartment keinen. Selbstausbeutung ist Prinzip.
Schick und vegetarisch
Wir suchen nach der neuen deutschen Küche, in Berlin, wo sie praktiziert wird. Nirgendwo sonst gibt es so viele anarchistische und illegale Guerilla-Küchen wie in der deutschen Hauptstadt. Oder Restaurants, die aus dieser Tradition entstanden sind und die eine für ein neues kulinarisches Selbstverständnis stehen, eine Küche ohne Vorbilder und ohne Lehrmeister.
Der zweite Ort unserer Suche ist ähnlich skurril, nur gibt es keinen Hausmeister, der den Weg weist. Denn der Eigentümer des Restaurants mit angeschlossenem Club will erst gar nicht, dass man den Eingang leicht findet. Er hat schon genug Probleme, die ganzen Leute unterzubringen, die Tag für Tag sein Etablissement stürmen. Erst recht dienstags und donnerstags, wenn im Club aufgelegt wird.
Der Club heißt »Cookies«, das Restaurant »Cookies-Cream«. Und es gehört Heinz Gindullis (36), der der ganzen Welt nur als »Cookie« bekannt ist. Cookie ist verschmolzen mit Cookies. Und mit der Legende. Um in das Cookies zu gelangen, geht man nach dem Westin-Hotel rechts hinein, am Personaleingang der Komischen Oper vorbei und findet nach den bunten Mülltonnen eine kleine Stiege zu einer sehr kaputten Tür. Dann muss man noch eine Treppe hoch und steht in einem sehr kargen aber sehr schönen Speisezimmer.
Links ist eine frei einsehbare Küche. Hier werkt Stephan Hentschel (28), jung, ehrgeizig und ein unglaubliches Talent. Hentschel kocht vegetarisch. Und zwar so spannend, wie selten in Deutschland. Hentschel kann vor allem würzen und abschmecken. Ein Beweis: die grandiose Couscous-Rolle, gefüllt mit Blauschimmelkäse. Oder die Parmesanknödel mit Artischockenböden, die nicht eine Minute so langweilig sind, wie sie klingen. Hentschel will Dinge addieren, die im ersten Moment nicht selbstverständlich erscheinen. Und er setzt dabei auf seinen Instinkt.
Das Cookies Cream ist ein legales Restaurant. Das war es nicht immer. Früher hatte Cookies einen Club in der Charlottenstrasse. Gleich beim Gendarmenmarkt. Auch dort konnte man essen, allerdings war das Lokal illegal – und flog irgendwann auf. Früher, war das Teil des Spiels mit der Behörde. Früher.
Guerilla ist Legende
Die ersten Jahre der Guerilla-Restaurants waren roh und spannungsgeladen. Vor bald zehn Jahren sorgten sie für anarchistisch angehauchte Furore. Leere Wohnungen und Läden wurden kurzfristig besetzt, Tische, Teller, Gläser, Pfannen und mobile Gasherde hingestellt. Und dann wurde gekocht, was die Leute so mitgebracht haben. Meist gegen Mitternacht kam die Polizei. Dann half nur weglaufen. Nur: Diese Zeiten sind vorbei. Wer das sucht, wird es heute kaum noch finden.
Manchmal aber doch. Der Ort ist übel beleumundet, er liegt im Migrationskiez Kreuzberg. Und zwar dort, wo er keine Minute lang schick ist. Vom obersten Geschoß eines hässlichen Neubaus hat man auf der Dachterrasse einen guten Blick auf die Gegend. Unten stehen Fixer und warten auf ihre Ration, oben kocht Jens Zahn (Name geändert), der nicht fotografiert werden will. Ebenso wenig sollte man den Ort fotografieren. Denn Jens Zahn führt eines der letzten illegalen Guerilla-Restaurants in Berlin, das »La Mansarde«.
Reservieren kann man nur über eine Mailadresse, die man zudem erst herausfinden muss. Dann bekommt man verschlüsselte Anweisungen. Und einen Zeitpunkt. Freitag um neunzehn Uhr. Zahn (28) ist gelernter Koch und verdient sein Geld als stadtbekannter DJ. Die Wohnung, in der La Mansarde stattfindet, wurde extra für diesen Zweck angemietet. Zahn kocht drei Gänge, etwa Süßkartoffelsuppe mit Buttermilch, Ingwer und frischem Kerbel. Oder Barbarie-Entenbrust mit Orangenjus, gefüllter Zucchiniblüte und getrüffeltem Kartoffelgratin. Als Nachspeise einen Heidelbeer-Cupcake mit Zuckerblüte.
Für diese Kreationen muss der Gast maximal 30 Euro auf den alten Vorzimmertisch legen. Gegessen wird an einem Klapptisch, der auf rohem Estrich steht. Für viele Feinschmecker wäre das ein unwirtlicher Ort. Deswegen kommen auch nur junge Leute, die das Kochen und Essen gerade entdecken. Für sie ist das La Mansarde auch gedacht, sagt Zahn, der keine »Gastrofuzzis« bewirten möchte.
Zu Gast im Wohnzimmer
Beim Eintreten Schuhe aus. Und dann im Schneidersitz an einem niederen Tisch Platz nehmen. Bei »Lucky Li´s & Dr G´s Fun Factory« diniert man im Wohnzimmer, Lucky Li´s & Dr G´s sind private Gastgeber, also keine professionellen Gastronomen. Und doch handelt es sich nicht um gewöhnliche Abendessen unter Freunden.
Lina Jachmann (29) und Florian Günzel (39) verdienen ihr Brot als Werbetexterin und Rechtsanwalt. Gemeinsam mit einem stadtbekannten Szenefriseur haben sie schon früher aufwändige private Dinner veranstaltet; Lucky Li´s & Dr G´s ist ein Phänomen der Social Networks, fast alle Gäste werden über dieses Umfeld zu Tisch gebeten. Jedes Essen umfasst drei bis vier Gänge, gekocht wird nach einem Farbkonzept und nach der Sasion. Heute ist die Farbe Orange dran, es gibt Obazda mit getrockneten Aprikosen auf Paprika-Spiegel, Raviolischiffchen mit Linsen und Karotte sowie eine Orangen-Tarte. Jachmann und Günzel kochen meistens vegetarisch, in ihren Augen wird die Gemüseküche in Deutschland stark unterschätzt. Die Möglichkeiten der Gemüse aufzuzeigen, ist ihr selbsterteilter Auftrag.
Günzel hat mit seinen Eltern schon als Kind immer in guten Restaurants gegessen; er war noch Gast in Witzigmanns legendärer Aubergine am Münchner Viktualienmarkt. Irgendwann wollte er selber so gut kochen können und begann in einem Sternerestaurant in Augsburg mit einer Ferienausbildung. Das ganz Aufwendige hat er aber inzwischen wieder fallengelassen.
Jachmann und Günzel holen sich ihr Gemüse und viele Kräuter aus dem Kreuzberger Prinzessinnengarten, einer Anbau-Initiative im urbanen Raum. Andere Zutaten kommen tatsächlich aus Omas Garten. Lokalere Küche ist kaum möglich.
Ruheoasen im Krawallbezirk
Lokale Küche predigt auch Patrick Becker (43), der Koch des Restaurants »Drei Schwestern« im ehemaligen Bethanien-Spital in Kreuzberg. Der Häuserblock ist teilsaniert, einige Gebäude sind noch besetztes Gebiet und auf der gegenüberliegenden Straßenseite schieben Deutsche und Türken gemeinsam die Kinderwägen.
Die Drei Schwestern sind eine Ruheoase am Rande Kreuzbergs. Mittags und abends wird hier auf hohem Niveau lokale Küche inszeniert. Man ahnt nicht, dass ein so gediegenes Restaurant wie die Drei Schwestern gleichfalls ein Nachfahre der Berliner Guerilla-Gastronomie ist. Denn Mitbesitzer Wolfgang Sinhart (43) gründete einst das »White-Trash«, einen der ersten Clubs in der Torstrasse.
Das alte White-Trash war Punk pur, ein Musikschuppen mit gutem Essen in einem abgewrackten, ehemals chinesischen Restaurant. Sinhart verkaufte die Mehrheit seiner Anteile, um das Projekt Drei Schwestern aufzuziehen; das White-Trash zog um und gehört inzwischen zu den arrivierten Szenelokalen Berlins.
Sinhart macht die Drei Schwestern gemeinsam mit Michael Böhl (43), beide kommen vom Theater. Die Drei Schwestern sollen mit der Zeit ein Musiklokal werden, eine Art Berliner Cotton Club mit Bühne und viel Live-Charakter. Der Küche verordnet man die Region, ein Renner ist der Braten vom Apfelschwein aus Brandenburg. Koch Patrick Becker liebt die alte deutsche Kochkultur, den rheinischen Sauerbraten und den Kartoffelsalat, den er immer mit einer Prise Zucker anmacht.
Das Bandol sur Mer in der Torstraße ist ein direkter Nachfahre der ersten Guerilla-Küchen, die vor bald zehn Jahren für anarchistisch angehauchte Furore sorgten. Eine alte Dönerbude, die Küche anarchistisch, die Gerichte wie die Einrichtung frei von dekorativen Elementen. Peter Ullrich muss lachen, wenn er die Legende der Guerilla Restaurants hört. Er führt den kleinen, engen Laden mit offener Küche. Der Platz ist so begrenzt, dass die beleuchtete Weintheke in die Damentoilette hineinreichen muss. Im Bandol wirken auch Köche, die in der Spitzengastronomie gearbeitet haben, etwa in Kolja Kleebergs Restaurant VAU am Gendarmenmarkt.
Ein legalisiertes Überbleibsel der alten Guerilla-Küche ist auch das »Themroc«, das auf der Torstrasse in Mitte seinen Geschäften nachgeht. Themroc ist ein avantgardistisch-anarchistischer französischer Film aus den Siebziger Jahren. Und das Restaurant ist wie dieser Film: spontan, wild und unberechenbar.
Im Themroc stehen sechs Köche am Herd. Mal dieser, mal jener. Einige kochen hier nebenbei, einige inzwischen hauptberuflich. Mittags gibt es zwei Gerichte, abends ein fixes Menü. Und gekauft wird, was man am Markt findet. Die neue Berliner Gastronomie ist dem Angebot der Region und der Saison verpflichtet. Was sie sonst noch eint: Das Unkonventionelle, das Unkomplizierte, die Liebe zum Grundprodukt, die Wiederentdeckung der Gemüse, der Kreationstrieb, das Entschlacken der Tradition.
Aus alldem entsteht ein neuer Zugang zur Kulinarik, wie er in Deutschland noch nicht da war. Und er wird auf breiter Basis angenommen. Die Anarcho-Lokale geben diese Einstellung auch an die Freunde und Gäste weiter, deren Zahl inzwischen in die Zehntausende geht. Erstmals in der Geschichte wird gutes Essen in Deutschland weder von Omas Kochbuch noch von Autoritätspersonen wie etwa Sterneköchen definiert. Höchstens von beiden beeinflusst. Denn auch im völlig heruntergekommen wirkenden Themroc werken Köche aus der Spitzengastronomie. Hier können sie sich abreagieren. Und das schmeckt.
Guerilla und Sympathisanten
Themroc
Torstrasse 183
10115 Berlin (Mitte
Tel: +49/(0)162/435 11 21
Reservierungen werden an- aber nicht immer ernst genommen.
Cookies Cream
Behrenstrasse 55
10117 Berlin (Mitte)
Tel: +49/(0)30/27 49 29 40
www.cookiescream.com
Eingang im Zulieferbereich ohne Hinweis.
Bandol sur Mer
Torstrasse 167
10115 Berlin (Mitte)
Tel: +49/(0)30/67 30 20 51
Drei Schwestern
Mariannenplatz 2
10997 Berlin (Kreuzberg)
Tel: +49/(0)30/600 31 86 00
3schwestern-berlin.de
Appartement
Prenzlauer Allee 242
10405 Berlin (Prenzlauer Berg)
Unregelmäßig, meistens Dienstag. In der ehemaligen Bötzow Brauerei.
Lucky Li´s & Dr. G´s Fun Factory
unregelmäßig, wechselnde Orte, Facebook-Gruppe Dermot o´ Dinner
Dieser Text erscheint in Zusammenarbeit mit der Illustrierten Falstaff, die heute neu am Kiosk liegt.
Diese Geschichte basiert auf Recherchen von Markus Novak. Im kommenden Jahr ist ein Buch zur neuen Berliner Küche geplant
Kann Berlin doch nicht so schlecht sein, wie man immer hört. Sehr schön!
Grossartiger Bericht, hätte ich das zwei Wochen früher gewusst, wäre ich zu einem dieser Läden hingegangen. Endlich mal was neues. Ich kann dieses Pseudo Sternefraß Farmhummer extra schlapp mit hier noch Gedönz nicht mehr sehen, da gefallen mir diese neue frische Sachen, abgekoppelt von dem was es überall gibt.
Gruß Felix
Chapeau Manfred, für mich der Artikel des Jahres!!!
hallo manfred … der ausführende artikel zu dem restaurant bandol sur mer fehlt! vergessen oder absicht?
wie ist das denn da so? man liest ja einiges
Kapitän, wieso sagst du sowas weiter?
Gut, dass die krassen Sachen nicht dabei sind.
Tja, wenn’s in Berlin doch auch nur so viele Jobs gäbe, wie es dort „Szene“ gibt…
Pööh, Berlin, auch schon gemerkt, was das, in dem beschriebenen Artikel, angeht? Was glaubt Ihr denn, was bei uns auf´m buckeligen Land schon seit Jahren in unseren Scheunen los ist? Hier gehen wir zum Landwirt und suchen unseren Bullen aus, der wird von unserem Metzger vernünftig geschlachtet und hängt dort zum Reifen. Um schlussendlich in unserer Grilltonne, von Buchenholz befeuert, auf den Punkt saftbindend zu garen. Dazu deutsche Küche mit heimischen und saisonalen Produkten, begleitet von Tropfen deutscher Winzer, welche man selbst entdeckt hat. Hier existiert eine kleine, feine Scene von Genussmenschen, die es absolut zu schätzen weiß, wenn man sich die Zeit und die Muße für ein gutes Essen nimmt, wie es so in der Gastronomie und Hotellerie nicht zu bekommen ist! Saisonale Produkte und klare Zubereitungen bilden ein maulfüllendes Geschmackserlebnis. Auf den Trend ist gepfiffen, datt hammer immer schunn suu jemaat! Spass macht, das es immer mehr werden, die so ticken und danach kochen!!! Klar, und GENIESSEN.
Mit kulinarisch einwandfreien Grüssen
Le Maître
„Cookies“ kenne ich, ist klasse. Was wird denn bei den anderen so aus dem Weinkeller geholt?
Fragt ein neugieriger Gast
Ach Gottchen. Ich dachte, man hätte in Berlin die Geheimniskrämerei/Exklusivitätsschiene irgendwann auch mal nicht mehr nötig.
also wir wählen hier in berlin auch manchmal bullen aus … wir sind auch hart zu denen … aber schlachten tun wir sie nicht gleich – obgleich sie manchmal schön fett und „reif“ sind 😉
war ein witz – misslungen
Da stimmt meine Vermutung. Ich sag es mal so: da habt ihr ein Problem. Mein Lösungsvorschlag für den nächsten Berlin-Besuch: Bei Hammer eine gute Flasche kaufen und dann zu den Freischärlern essen gehen. Sind die damit einverstanden?
Fragt sich der Gast
Ups, das hätte ich ja auch mal kapieren können.
Um in einem der genannten Restaurants zu Speisen sollte man ein Bobo sein und der Künstler-Szene angehören, ein Lohas der tagsüber Designer ist und Nachts in einem stillgelehten Windelfabrik Chicago House auflegt oder ein Rechtsanwalt der in dritten Hinterhof illegal Nachts Vernissages veranstaltet.
Richtig beschissen fand ich den Satz mit dem Hausmeister und der Tigerkatze – da bekommt jedes Landei Gänsehaut und denk sich „Fuck da werde ich nie dazugehören :)“
man kann uns hier kontaktieren:
lamansarde@hotmail.de
hot mail, hot cook, hot food 😉