Am Anfang dieser Krise kamen Hoffnungen auf. Es war die Rede, dass wir nach der schlimmen Zeit unsere Welt mit anderen Augen wahrnehmen werden und bewusster erleben. Dazu würde jeder Einzelne seinen Teil beitragen, weil er das, was ihn umgibt, von nun an besser wertzuschätzen weiß. Davon spüre ich leider nichts.
Beim Wein gibt es nur zwei Wege, sich mit ihm auseinanderzusetzen: Entweder macht man das für sich alleine oder man sitzt jemandem gegenüber, schaut ihm ins Gesicht, redet über Gott und die Welt und natürlich auch über Wein. Ich vermisse das Miteinander reden bei diesen Internet-Verkostungen. Dabei merke ich, wie gerade jetzt beim Sprechen in dieser Krisenzeit völlig neue Empfindungen möglich sind. Plötzlich zeigt ein bisher im Vorbeigehen getrunkener Gutswein Eigenschaften, die man ihm vormals nie zugetraut hätte. Am Beispiel eines 1-Liter-Weins aus dem Rheingau erlebte ich das.
Es ist ja eine Schande, dass diese solide Kategorie unter deutschen Winzern nurmehr geringes Ansehen genießt. Der fortgeschrittene Weinfreund parliert über Guts-, Orts-, Lagenweinen und am Ende kommt natürlich das Große Gewächs, das er ganz kennerhaft als „GG“ abkürzt und meint, dies sei das Beste, was auf Deutschlands Weinkrumen zustande kommt. Was für ein Irrtum! Der Zecher hat es wahrlich nicht leicht in diesen Tagen. Und Glück, wenn dann ein Winzer aus dem Rheingau daherkommt, der Riesling aus einer Lage auf die Liter-Flasche füllt, die der tüdelige Premiumwinzerverband VDP als sogenannte „Erste Lage“ klassifiziert. Dieses unverschämt günstige Getränk ist meine größte Entdeckung, seit der Corona-Irrsinn über uns kam.
Wo genau kommt der Wein her? Wir haben es mit dem Hallgartner Hendelberg zu tun, der für Rheingauer Verhältnisse schattig und hoch gelegen ist. Gut, die Reben für diesen Literwein vom Weingut Kreis wachsen hier weder an höchsten Stellen noch sind sie die allerältesten. Das macht aber so etwas von gar nichts. Weil dieser Liter-Riesling es schafft, Herkunft und Süffigkeit kongenial zu paaren. Das ist Wein der alten Schule, ein schmackhafter Riesling in einer vernünftigen Menge zu einem mehr als leistbaren Preis. Und er ist nicht furztrocken, ganz im Gegenteil. Seine zünftige Säure bietet der Fruchtsüße aus gelb-knackigen Früchten dermaßen ordentlich Paroli, dass so mancher bass erstaunt sein wird, in welchem Tempo ein Liter Wein aus der echten Wirklichkeit verschwinden kann. Ja, dieser Wein ist ein Genuss, den ich vor zwei Monaten niemals so zu schätzen gewusst hätte wie heute. Weil ich beim Trinken und darüber Reden einem Menschen aus Fleisch und Blut gegenüber saß und keinem Bild.
Axel Biesler ist gelernter Winzer und Sommelier. Er schreibt für verschiedene Fachzeitschriften. Von 2013 bis 2017 betreute er als Verkostungsleiter Köln den Falstaff Weinguide Deutschland. Seit der Ausgabe 2019 verantwortet Biesler die Region Rheingau im Gault & Millau Weinguide. Wenn seine Leidenschaft sicherlich den deutschen Gewächsen gilt, so hält Biesler seine Sinne doch stets für die gesamte Weinwelt offen. Er lebt, trinkt und schreibt in Isernhagen bei Hannover.