Der globale Verkostungszirkus kommt allmählich wieder in Fahrt. Den heutigen Nachmittag verbrachte der Captain im Hotel de Rome, ein beeindruckender Palast im historischen Berlin. Hier fand die Jahrespräsentation des italienischen Gambero-Rosso-Weinführers statt, in deren Rahmen die allerbesten von 46.000 verkosteten Weinen präsentiert und ausgeschenkt wurden. Durchs Programm führte Verkoster Lorenzo Ruggeri.
Ich kenne Menschen, die sich weigern, das luxuriöse Hotel de Rome zu betreten. Sie sagen, ein Haus, das historisch dermaßen kontaminiert ist, darf kein Ort des Vergnügens sein. Was meinen die?
Hier war bis 1945 Hauptsitz der Dresdner Bank, ein Geldinstitut, das bei der „Arisierung“ jüdischer Vermögen eine grausame Rolle spielte. In den Räumen der Bank soll es zu erschütternden Szenen gekommen sein. Angeblich brachten sich jüdische Bankkunden sogar an Ort und Stelle um, erzählte eine Freundin dem Captain, die in der jüdischen Gemeinde eine aktive Rolle spielt. Aber dazu fand er keine Quellen.
Der Captain wischt seine düsteren Gedanken beiseite und strebt zurück zur Spaßkultur des Weins.
Vergeblich. Das wird prompt vereitelt. Wie ein Gummiband zerrt das Schicksal den Captain in die Nachdenklichkeit zurück, aus der er sich eben zu befreien suchte. Denn plötzlich steht ein Mann vor ihm, den er zum letzten Mal 2018 an seiner Wirkungsstätte traf und ausführlich befragte: Christian Werth, Kellermeister des Kloster-Weinguts Muri-Gries, das im Stadtgebiet von Bozen/ Südtirol liegt.
Muri-Gries steht im Eigentum der Kirche. Erst gestern Abend (echt Zufall!) verkostete der Captain den absoluten Herzeigewein des Betriebs, den ihm Weinhändler Andreas Rossmann zuschickte. Es ist der monumentale und schöne → Weingarten Klosteranger Lagrein Riserva 2015 von Muri-Gries. Der Captain sagt (und schreibt) ja gerne, was er denkt und gibt Begeisterung wie Empörung gerne Raum. Zu Christian Werth spricht er heute folgendes: Das ist der interessanteste und vielleicht beste Rotwein Südtirols, den ich kenne.
Andere Kellermeister freuen sich sichtbar, wenn sie das hören. Aber Werth senkt die Augen und murmelte in seine Mund-Nasen-Bedeckung: Geben Sie uns bitte noch etwas Zeit. In 10 Jahren wird man sehen, was dieser Wein noch kann. Das nennt man Demut.
Lagrein ist eine der ältesten Rebsorten Italiens und eng verwandt mit Teroldego und Lambrusco. Trotzdem schmeckt er ganz anders. Seine Farbe ist tiefdunkel, fast schwarz mit violettem Schimmer. Er verfügt über eine rassige Säure und handfeste Gerbstoffe, die an Unterholz, schwarze Beeren und Tinte erinnern.
Lagrein mag warme Böden, dafür ist der Bozener Talkessel genau richtig. Hier werden manchmal die höchsten Temperaturen in ganz Italien gemessen. Im Klosterstift Muri-Gries forscht man bereits seit den 1990er-Jahren an dieser Rebsorte und züchtete durch massale Selektion (Auswahl von Rebstöcken mit positiven Eigenschaften und gezielte Vermehrung durch Aufpfropfen) eigene Reben, um aus den Trauben Premiumweine zu keltern.
Und so schmeckt Christians Super-Lagrein, ein atemberaubendes Ergebnis der rastlosen Weinforschung an einer unterschätzten Rebsorte. Der Wein ruhte 22 Monate lang in französischen Barriques und enthält leichte 13,5% Vol. Alkohol: Im Glas Schwarzrot mit hellen Rändern. Ich rieche Pflaume, Leder, feuchten Tabak und Vanille. Dann Spinatblätter, Earl-Grey-Tee und Ofenkartoffel. Im Mund würzig, rotbeerig und erdig. Ich schmecke konzentrierte rote Beeren mit deutlichen Eisennoten: Schwarze Johannisbeere, Brombeere, Heidelbeere. Dann Fichtennadel und Lakritze. Große Spigolosità – so sagt man in Italien, wenn ein Wein auf Kante genäht ist, und Rassigkeit mit Eleganz vereint. Am Gaumen sehr lebendige Säure und staubig nach edlem Kakaopulver. Einer der besten Weine aus Südtirol, die ich kenne. Vielleicht sogar der Beste.
Seit Jahren forscht Werth an der bäuerlichen Rebsorte Lagrein herum und verfeinert sie durch endlose Versuche. Eine alte Tradition der katholischen Kirche. Hätte es die Mönche Burgunds nicht gegeben, die über Jahrhunderte an Pinot-Noir-Klonen herumprobierten und alles fein säuberlich notierten, wäre die Weltweinkultur nicht dort, wo sie heute steht.
Hier siehst du ein ein Video, in dem der Mann aus dem Weinberg des Herrn seine Sicht auf die Rebsorte Lagrein darlegt:
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Der beeindruckende Weingarten Klosteranger Lagrein Riserva 2015 aus Werths Händen ist die (leider recht teure) Verkörperung einer Lebenseinstellung, die nur die Perfektion als Endziel kennt. „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ – Matthäus 5:48 (Bergpredigt).