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Großer Wein muss stinken!

Smells like Saar-Spirit.
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Weinkenner Markus Vahlefeld über die Schönheit im Allgemeinen, das Vibrieren der Seele, eine längst vergangene Burgunderprobe und warum großer Wein immer stinken muss.
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Natürlich könnte man Weingenuss wissenschaftlich betrachten. Jeder Weinliebhaber ist geschmacklich sozialisiert.

Der moderne Antiamerikaner ist beispielsweise der Überzeugung, dass der viele Zucker im US-Essen zu einer Vorliebe für süssliche und fette Weine geführt hat. Der Umkehrschluss führt dann – natürlich unbewusst und below the line – zu der Vorstellung, nur das teure Bio-Essen aus dem LOHA-Genossenschaftsladen ließe überhaupt die Möglichkeit zu, einen guten und reinen Geschmack auszubilden.

Oder aber man untersucht den Sensorikapparat des Menschen und findet bei jedem eine individuelle Eichung über nasale Sensibilitäten, Korkgeruchempflindlichkeiten oder die Möglichkeit, Brettanomyces zu erkennen.

Gähn! Vergessen wir die Wissenschaft.

Ich will philosophisch vorgehen. Warum machen mich manche Weine an?

Dabei interessiert mich mein sozialisierter Sensorikapparat erstmal überhaupt nicht. Mich interessiert allein die „seelische Wirkung“ eines Weins. Wenn meine Seele zu vibrieren beginnt und Gefühle wie Verehrung, Erregung und Leidenschaft produziert und alles in mir nach Wiederholung schreit, dann weiß ich, dass der Wein mich „geflashdingst“ hat.

Dabei will ich Wein nicht intellektualisieren. Begriffe wie anspruchsvoll, fordernd oder unverständlich sind streng genommen eine sinnliche Bankrotterklärung. Es geht um nichts weniger als die Schönheit im Wein.

Was aber ist wirkliche Schönheit?

Dazu muss man den Schönheitsbegriff zu allererst von den verHeidiKlumten Vorstellungen befreien, wie sie einem täglich von irgendwelchen Next Top Models, RTL-Schrowanges oder Daniela Katzenbergers vorgespielt werden. So als wäre Schönheit nur die Abwesenheit vom Imperfekten. Aber dem ist nicht so.

Schönheit ist ein vibrierender Begriff voll Anwesenheit. In ihm werden Eros und Geist sinnlich erfahrbar. Im Gegensatz zum asiatischen Kulturkreis, bei dem das Nichts die oberste Stufe der Weihe bedeutet, ist im westlichen Kulturkreis die höchste Fülle das Ziel. Schönheit ist die Fülle der sich gegenseitig aufhebenden Widersprüche. Sie ist die plötzliche und zeitgleiche Anwesenheit von Lust und Tod.

Ja, Uma Thurman in Kill Bill ist schön. Kate Moss ist schön. Und Amy Winehouse war schön. Das Schöne ist nie püppchenhaft. Es besitzt jedoch die Freiheit, mit dem Püppchenhaften zu spielen. Aber egal, mit was das Schöne spielt, es spielt so, dass die Vergänglichkeit, die Todgeweihtheit aufscheint. So ist es auch beim Wein.

Das ist der vornehmliche Grund, warum alte Weine ein nie dagewesenes Erlebnis sein können. Es ist die Todessüße, die die Morbidität des Daseins in ein sinnliches Erlebnis packt. Drinking on the edge, das geht nur mit einem alten Wein.

Glücklicherweise müssen wir aber nicht 30 Jahre warten, bis wir beim Wein wahre Schönheit erleben können. Auch junge Weine können verdammt schön sein. Weil sich im Moment des Genießens geistig ein Phantasiegebilde dazu gesellt, wie der Wein wohl in 30 Jahren schmecken wird.

Und um dieser erregten Prophezeiung vertrauen zu dürfen, gibt es einen ganz einfachen Anhaltspunkt. Der Wein muss stinken.

Jeder große Wein stinkt. Immer. Bereits in der Jugend.

Ob es ein Pontet-Canet, ein Coche-Dury, ein Chambertin von Rossignol-Trapet, ein Cornas von Auguste Clape, ein Pettenthal von Kühling-Gillot oder eine Sonnenuhr von J.J. Prüm ist, die Weine stinken.

Mal ist es der Schiefer, mal ist es der Kalk, dann das Holz oder die Überbleibsel der Spontangärung.

Aromen wie verbranntes Gummi, Streichhölzer, nasses Laub, flüchtige Säure oder dieser eigentümliche Geruch von nassem Stein nach einem Sommerregen – alles eher unangenehme Gerüche, die dem Schönen den kick geben. Ohne sie wären es Püppchenweine oder Weine mit zu dicken Brüsten.

Mein Initialerlebnis war eine Verkostung mit großen Pinot Noirs aus Deutschland, Neuseeland und dem Burgund.

Die Neuseeländer waren wunderbar fruchtig und sauber, die besten Deutschen zeichneten sich durch dunkle Tiefe und Süße aus, aber es waren die Burgunder, die durchweg leicht fehlerhaft waren. Jeder der roten Burgunder stank auf seine ihm unnachahmliche Art. Keiner von ihnen wollte gefallen, keiner biederte sich an. Love me or leave me! Riefen sie mir zu.

Während an den Neuseeländern irgendein geheimes Rezept angewandt worden war, das sie alle gleich schmecken ließ, merkte man den deutschen Rotweinen an, dass sie unbedingt gefallen wollten.

Die einen schienen auf Analysewerte hin getrimmt, die anderen auf einen imaginären Kundengeschmack. „Zielführende Vinifikation“ hat der bekannte Winzer Reinhard Löwenstein dieses Phänomen mal sehr treffend genannt.

Nur die Burgunder wollten nicht passen. Sie verfolgten keinen Zweck. Sie waren Selbstzweck. Und das ist das Wesen der Schönheit. Sie biedert sich nie an. Sie ist nur ihrer selbst willen da. Frau Merkel würde es „wenig hilfreich“ nennen. Und dieses wenig Hilfreiche ist verdammt gut so! Es stellt den Genießer vor eine Aufgabe.

Zwei Dinge setzen große Weine beim Genießer voraus: Lust auf Unbekanntes und ein kleines Quantum Masochismus.

Natürlich habe ich mich gefragt, warum mich stinkende Weine kicken. Der Gesamteindruck eines stinkenden Weins führt ins Unbekannte, aber ohne eine gewisse Lust an der Überwindung des Widerwillens, am Schmerz und an der Hässlichkeit geht es eben auch nicht. Das ist halt der Unterschied zwischen Wirkungstrinken und Luxustrinken. Oder der zwischen einer armen Gesellschaft und einer saturierten.

Die arme Gesellschaft holt sich den Kick an der stetig wachsenden Fülle, die saturierte am Schmerz.

Trotzdem gibt es auch hässliche Weine.

Ganz spontan fallen mir da viele ungeschwefelte Weißweine aus autochthonen Rebsorten ein, die so schmecken, wie manche sich ökologisch gebärdende, schwitzende 40jährige Frau mit zu langen Achselhaaren aussieht. Naturwein ist dann der politisch korrekte Aufkleber, der aus Ungepflegtheit und Sadismus eine für den sich selbst geißelnden Intellektualmasochisten passende Weltanschauung macht. Das sind dogmatische Kopfweine, die aller Sinnlichkeit Hohn sprechen.

Oder die Püppchenweine, die wahlweise so schmecken, wie entweder Pamela Anderson oder der Bachelor aussehen.

Sie gaukeln überbordende Sinnlichkeit vor und vergessen dabei, dass sich auch in der Sinnlichkeit Geist zu manifestieren hat. Es ist wie der Unterschied zwischen Erotik und Pornographie. Letztere zeigt alles, lässt einen zwar befriedigt aber leer zurück.

Erotik dagegen ist die Kunst der Verschleierung. Sie ist unbefriedigend, belässt die Seele aber im Zustand der Gereiztheit. Bei Erotik muss der Betrachter seine eigenen Bilder produzieren und dem Objekt der Leidenschaft hinzufügen. Trotzdem bleibt das Gesamtbild immer inkongruent und merkwürdig unvollständig. Dieser unauflösbare Zwischenraum an Widerspruch ist Geist. Ihn in einem Wein sinnlich wahrzunehmen, das ist das Glück.

Bitte nicht falsch verstehen! Manchmal liebe ich die pornographischen Weine, vor allem wenn es schnell gehen muss oder es auf Wirkung ankommt. Es kann ein bis zur Vollkommenheit geistloser Zustand sein, der dennoch Befriedigung hervorruft. Wie fast food aus dem Drive-In. Daran ist moralisch nichts auszusetzen.

Und auch an den Naturweinen und anderen vinologischen Kopfgeburten kann sich die Seele abtasten. Sie bieten keinen Genuss und keine Befriedigung und der Alkohol ist eher ein Kolleteralschaden, weswegen mir es ehrlicher vorkäme, ungesüßten kalten Kräutertee zu trinken. Aber zumindest hinterlassen Naturweine in mir ein positiv aufgeladenes Gegenbild. Sie sind in ihrer Negation der Gradmesser dafür, wie viel Genuss sich meine Seele wirklich wünscht und ihr möglich erscheint. So eichen mich diese Art Weine für den Genuss echter Weine und sensibilisieren mich für die wahre Schönheit.

Wahre Schönheit ist nie perfekt. Sie ist anmutig und schmutzig zugleich. Zuviel Schmutz würde sie derb machen. Ausschließliche Anmut langweilig.

Die Götter haben uns die Liebe geschenkt, weil die Welt nicht perfekt ist. Wäre sie es, müssten wir sie bewundern, ohne sie lieben zu können. So ist es auch beim Wein. Ich konnte die perfekt gemachten Neuseeländer für das Geleistete bewundern, lieben konnte ich sie nicht.

Die deutschen Pinot Noirs wollten geliebt werden, was ich als aufdringlich empfand. Die französischen Burgunder wollten nicht geliebt werden. Sie mussten geliebt werden. Ohne den Zustand der Liebe gaben sie nichts preis.

Dieses Initialerlebnis ist lange her. Seitdem hat sich in meiner Trinkerkarriere die Gewissheit herausgebildet, dass grosse Weine stinken müssen. Das etwas Unangenehme ist in einem großen Wein aufgehoben im Sinne von bewahrt. Es ist der letzte Rest von Anwesenheit der Natur in dem Kulturprodukt Wein. Glücklicherweise gilt das nicht nur für Burgunder. Auch immer mehr deutsche Weinmacher entdecken die souveräne Größe, ihre Weine keiner Gefälligkeitsnorm anpassen zu müssen.

Man kann sich über Terroir, Spontanvergärung und Holzfass bestens die Köpfe einschlagen. Am Ende zählt der Mut, einer unkontrollierbaren Hässlichkeit im Wein Einlass zu gewähren. Nur dann kann es Liebe sein.

Soll man Weinflaschen stehend oder liegend lagern?

Der große Dekantier-Schwindel

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Datum: 21.8.2019
 

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