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Der dekantegorische Imperativ

Einatmen, ausatmen...
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Weintester Clemens Maria Mally traut seinen Kollegen nicht. Denn sie trinken zu selten und zu wenig alten Wein. Und wissen deshalb nicht, wie man mit ihm umgeht. Meint er.
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Leute, ihr hört zu sehr auf die sogenannten Experten und Weinwichtigtuer. Es wird Zeit, euch mal über ein paar Umstände aufzuklären. Erst mal zur Begriffsklärung: Ich (Österreicher) nenne das Umgießen von Wein pauschal dekantieren. Denn das Endergebnis – dekantiert oder karaffiert – bleibt mehr oder weniger dasselbe.

Hä, was ist jetzt genau der Unterschied zwischen Dekantieren und Karaffieren? Das sagt unser kluges Weinlexikon:

Noch vor einer oder zwei Weintrinkergenerationen bezeichnete man mit Dekantieren, wenn der Wein nur deswegen in eine Karaffe oder sonst ein bauchiges Gefäß umgefüllt wurde, um ihn vor dem Genuss von etwaigem Depot (harmlose Weinkrümel) zu trennen. Heutzutage wird dieses Verfahren meistens lange vor dem Genuss angewendet, damit der Wein Sauerstoff zugeführt bekommt. Korrekt bezeichnet man dieses Verfahren mit Karaffieren.

Wein bekommt also über das Ausgießen ein Maximum an Luft. Was ist das Merkmal einer Karaffe? Richtig, die große Oberfläche des Inhalts.

Wenn ich nun einen alten Wein dekantiere und ihn über Stunden in der Karaffe lasse, dann dient das Bad in der Kanne nur einem Zweck: Belüftung. Wein braucht das, egal in welchem Stadium. Ich hab es schon unzählige Male erlebt. Aber genau davor warnt mich die Experten-Lobby der Weinblogger und Besserwisser. Irgendwer behauptete mal, dass man Altwein nicht dekantieren darf. Sogar hier beim Captain.

Älteren Wein dekantieren ist Unsinn

Seitdem plappern Journalisten, Blogger und andere Schlaumeier diesen Blödsinn nach. Nun, wie kommt es zu diesem weit verbreiteten Irrtum, man dürfe Altwein nur ganz vorsichtig mit Sauerstoff bespielen? Ich habe da einen Verdacht.

Weil viele meinungsbildende Fachleute, Journalisten und Blogger ältere Weine nicht wirklich trinken. Ich meine richtig trinken. Flasche für Flasche. Denn das können sich nur ganz wenige leisten. Alte Weine sind teuer und werden bei Verkostungen, wohin die meisten der Weinbesprecher gehen, nur in homöopathischen Dosen ausgeschenkt. Man darf ein wenig nippen. Das war es. Schön, dass sie gekommen sind, berichten Sie über uns. Auf Wiedersehen.

So eine Verkostung bietet jedoch nur eine kurze Momentaufnahme. Das Wohlgeschmacksfenster eines senioren Rotweins öffnet sich aber meist sehr langsam. Nach 50 Jahren unter Luftabschluss wäre ich auch erst mal ziemlich stinkig. Ich sage, wer seinen Wein über einen längeren Zeitraum (und ich meine laaaange – nämlich 7 bis 14 Tage) verkosten will, der soll ihn doch bitte gerne in der Flasche lassen. Will ich aber heute Abend eine ganze Flasche Wein austrinken, dann dekantiere ich ihn.

Lasst mich eine kurze Anekdote erzählen. Aus der Zeit, als ich zum ersten Mal als ganz junger Mann bei einer Altweinrunde teilnehmen durfte. Ich schickte damals einen Riesling Smaragd Singerriedel Jahrgang 1990 von Hirtzberger ins Rennen. Der jüngste Wein des Abends. Und ich rümpfte besserwisserisch die Nase, als ein erfahrener Altweinhändler Wein für Wein in Karaffen schüttete. Das sah ziemlich respektlos aus. Und als dann ein 1945er Château Mouton-Rothschild (Flaschenpreis heute über 10.000 Euro) auch in so einer Urne landete, dachte ich mir, die Götter müssen verrückt sein. Herrgott, was geschah da?

Spätestens als ich den Wein kurz darauf in eines meiner Gläser bekam, fühlte ich mich bestätigt. Vor mir war alles, nur kein Wein. Ich roch Pflaumen, Pilze, nassen Boden. Von Frucht keine Spur. Von einem abgestandenen Wein umso mehr. Jedoch nach ein bis zwei Stunden und einigen guten Gesprächen wurde ich Zeuge einer fantastischen Metamorphose. Wir probierten den Mouton über den ganzen Abend und er wurde immer besser.

Was war passiert? Der alte Knabe hatte begonnen, sich zu entfalten. Der Waldboden wich und schuf Platz für noble Erdbeeren, Cassis und orientalische Noten, Kardamon, etwas Leder und Teer. Für mich das pure Leben. Bei guten Altweinen (perfekte Flaschen vorausgesetzt) erlebe ich solche Formkurven dauernd. So erging es uns an diesem Abend nicht nur beim großen Mouton-Rothschild, sondern auch bei den kleineren Weinen wie Petit Village 1953 oder Château Cantemerle 1962.

Seit jenem Abend bin ich regelmäßig Teilnehmer dieser Runde. Dekantiert wird noch immer alles. Alte Burgunder, alte Rieslinge, alte Veltliner, alte Bordeaux, alte Châteauneuf. Einfach alles. Jeder Wein profitiert von Luft. Aber man darf nicht erwarten, dass ein bereits gestorbener Wein mit einer Karaffe reanimiert werden kann. Wobei – wie so oft in dieser Weinwelt – wird es irgendwo wahrscheinlich jemanden geben, der darüber eine Weise zu singen weiß.

 

Datum: 24.6.2020 (Update 27.6.2020)
 

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