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2011: „Gemma Jahrgang schaun“

Schön ist es nie bei Weinbörsen. Aber informativ... (Fotos: VDP)
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Alle Jahre wieder gewährt die Mainzer Weinbörse der VDP-Weingüter einen 1. Blick auf den aktuellen Jahrgang. Captains Einflüsterer Markus Vahlefeld trank sich durch und zog ein Fazit. Wer Gutsweine mag, wird 2011er-Gutsweine lieben.
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Am letzten Wochenende im April fand in Mainz wie jedes Jahr die VDP-Weinbörse statt. Gezeigt wurden die Weine des neuen Jahrgangs 2011. Und da die Grossen Gewächse noch nicht abgefüllt sind bzw. noch nicht gezeigt werden dürfen, ging es vornehmlich um die Gutsweine und die Ortsweine im trockenen und um die kleinen Prädikate (Kabinett und Spätlese) im fruchtigen Bereich. Ich war gespannt, hatte ich doch bisher nur Fassmuster aus 2011 probiert – und das auch nur sehr sporadisch.

Als glücklicher Bewohner der größten Weinregion Deutschlands habe ich nun die Unbilden des Jahrgangs 2011 deutlich mitbekommen: Spätfrost, Gewitter, Hagel, ein kühler Sommer, frühe Botrytis… dass daraus ein „Kometenjahrgang“ wie 1811 und 1911 werden sollte… nun ja, ich war skeptisch. Genausogut könnte das Ausrufen eines Überdrüberjahres das reine Winzerlatein nach einem eher sehr schwierigen Jahrgang 2010 sein. Ich war skeptisch, aber nicht ohne Hoffnung.

Hier meine Eindrücke in wirrer Reihenfolge und ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit oder Gerechtigkeit. Das liegt ganz einfach an der Unmöglichkeit, an nur einem Tag – ich hatte nur den Montag zur Verfügung – jeden und alles zu probieren und damit eine halbwegs tragbare Hierarchie zu produzieren. Bekanntlich meinte unser grosser Philosoph Hegel, dass das Universum berechenbar sei – und das Unberechenbare am Universum ist dann der Geist. So oder so ähnlich sind auch meine Notizen zu verstehen: l’geist c’est moi.

Navigieren mit Kompass

Trotzdem: wenn ich mir schon die Zeit nehme, einen ganzen Tag Weine zu spucken, dann habe ich innerlich auch einen Kompass. Erst am Ende des Tages weiß ich dann, wohin mich mein Kompass geführt hat. So wie es die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Sprechen gibt, so gibt es ebenfalls die allmähliche Verfertigung der Erkenntnisse beim Schreiben.

Kompass 1: Alternativen zum Sauvignon Blanc

Ich gebe zu, seit einiger Zeit nervt mich die Modewelle des Sauvignon Blanc. Warum nur lieben die Leute Weine, deren Identität und Herkunft überall sein könnte und damit zwingend keine und nirgends ist? Jaja, die Verlässlichkeit! Sauvignon Blanc ist trocken, Sauvignon Blanc ist fruchtig und Sauvignon Blanc ist animierend. Wirklich alles Vorteile, die für diese Rebsorte stehen. Aber es geht auch anders. So führte mich mein Weg zu den Muskatellers und Scheureben auf der Mainzer Weinbörse. Natürlich nur den trockenen, sonst könnte ich ja gleich diese mastig-süßen Gewürztraminer aus dem Elsass trinken. Will ich aber nicht! Und siehe: da gibt es wahrhaft gute Alternativen zum Sauvignon Blanc. Zumindest bei der Scheurebe. Die wenigen Muskateller, die ich auf der Weinbörse trank, hinterließen bei mir den Eindruck, dann doch lieber zum Sauvignon Blanc greifen zu wollen. Deren Nase ist derart aromatisch und überbordend traubig, dass der trockene Körper einfach planlos hinterherhechelt und nicht Schritt halten kann. Diesen Widerspruch finde ich befremdlich. Vielleicht passt beim Muskateller der süße Ausbau besser. Falls ja, interessiert er mich nicht.

Bei den trockenen Scheureben hingegen ist es völlig anders: die Nase ist irgendwo zwischen Pampelmuse, Riesling und Holzwürze einzuordnen, auch wenn keine der Scheureben je neues Holz gesehen hat. Während mich die Sauvignon Blanc-Nase in letzter Zeit nervt weil langweilt (gibt es eigentlich eine eigens für SB entwickelte Hefe, die jeden Wein auf Sellerie- und künstlich-pornografisches Stachelbeeraroma trimmt?), sind die Vertreter der Scheu in ihrem Aromenspektrum wunderbar heterogen. Besonders hervorzuheben sind die rheinhessischen Scheus von Wittmann, Kühling-Gillot und Wagner-Stempel. Die Wittmannsche Scheu ist ja schon fast ein Klassiker und so der verlässliche und vorhersehbare Teil des Trios. Die trockenste und knackigste Scheu kommt von Kühling-Gillot, die herb und fast männlich wirkt. Weicher und etwas geschmeidiger der Wein von Wagner-Stempel, der vielleicht der trinkingste Vertreter der drei ist. Wer Scheu nicht kennt, hat wirklich etwas verpasst. Den Sauvignon Blanc bräuchte man momentan nur, um mitreden zu können, weil er so trendy ist. Aber wer will das schon?

Kompass 2: der beste Riesling-Gutswein

Es ist nicht gerade das Angenehmste, mehrere Dutzend einfacher Weine in sich reinzuschütten, alles dann wieder auszuspucken, um dann noch den Einäugigen unter den Blinden zu küren. Aber dieses Opfer ist dem Schiff geschuldet. Denn mit einer belastbaren Menge an Gutsweinen bekomme ich auch einen Eindruck von der Qualität des Jahrgangs. Zumindest im Basisbereich. Also: ran an den Speck!

Um ehrlich zu sein: ich habe keinen einzigen schlechten Gutswein getrunken, naja vielleicht den Win-Win von Deinhardt/von Winning. Und dann kann ich es in meiner maßlosen Ungerechtigkeit ja auch vorwegnehmen: von Winning bekommt mit dem Jahrgang 2011 auf jeden Fall die vorläufige goldene Zitrone. Der von Winningsche Weinstand war von den Parfumwolken der trés chic Kundschaft umweht und diese Nebelwolken waren das wirklich einzig Angenehme dabei. Der Rest müsste Schweigen sein, aber da ich im Schweigen sehr schlecht bin, komme ich später nochmals auf von Winning zu sprechen.

Rheingau: geschliffen und artig

Nach Dutzenden von Gutsweinen also ein vorläufiges Fazit: der Rheingau wie immer geschliffen und artig – mein Riesling-Stil ist es nicht. Aber ich bin auch noch unter 60. Verlässlichkeit eben, nur halt auf niedrigem Niveau. Aber wer mit „keine Experimente“ groß geworden ist, kann sich vom Rheingau scheinbar nicht lösen. Wobei natürlich auch die femme fatale des Rheingau dazu gehört: Kühn. Deren Weine stechen wie immer heraus, sind gradlinig und kantig zugleich, nie fruchtig, immer würzig und haben also in ihrer Einzigartigkeit wieder etwas Rheingau-Untypisches, was glücklicherweise befreiend wirkt. Und dann muss man dem Dirk Würtz einfach bescheinigen, dass er nicht nur das Bloggen, sondern auch was vom Weinmachen versteht. Endlich wirken die Weine von Ress nicht mehr so glatt poliert, sondern eigenständig und individuell, ohne den Rheingau zu negieren.

An der Nahe stehen Schäfer-Fröhlich und Emrich-Schönleber an der Spitze, wobei Schäfer-Fröhlich momentan die Nase vorn hat, aber auch davon später mehr. Dönnhoff schmeckt wie Rheingau und wie Crusius, also gepflegte Langeweile auf hohem Niveau. In der Grundschule nennt man so etwas voneinander Abschreiben.

Rheinhessen und Pfalz die Nase vorn

Rheinhessen und Pfalz haben deutschlandweit im trockenen Bereich deutlich die Nase vorne und so habe ich meinen Lieblings-Gutswein auch in der Region gefunden. Es ist der Gutswein vom rheinhessischen Weingut Wagner-Stempel, der alles hat, was ein Gutswein haben muss: Reintönigkeit, Druck, Finesse und Trinkspaß. Könnte ich stundenlang saufen, wenn ich nicht spucken müsste. Daumen hoch.

Und dann gibt es noch den Zwischenbereich mit Weinen, die keine Gutsweine mehr sind und noch keine Ortsweine sein wollen. Da sind der Rotschiefer von St. Antony und der Eisbach von Battenfeld-Spanier die Gewinner. Beide bereits etwas komplizierter und anspruchsvoller – oh Gott, wie ich diese Begriffe fürchterlich finde, was ich meine ist: beide haben Kanten und sind schmutziger als die Gutsweine -, trotzdem rinnt der Saft die Kehle herunter und bietet nicht enden wollenden Trinkfluss, sofern man bereit ist, etwas mehr als 10 Euro zu zahlen. Die lohnen sich.

Vorläufiges Fazit: wer Gutsweine liebt, wird 2011 lieben.

Kompass 3: die schönste Kollektion

Kurzum: an welchem Stand hatte ich am meisten Freude? Und da hat Schäfer-Fröhlich die Nase vorn. Das liegt zum einen daran, dass er von trocken bis restsüss alles dabei hatte und damit die ganze Stärke der Nahe ausspielte, zum anderen aber auch daran, dass seine Weine im jungen Stadium einfach nur sexy sind. Und ich fand es gut, dass Tim Schäfer-Fröhlich inzwischen darauf verzichtet, neben den Grossen Gewächsen auch so Quatschweine wie einen trockenen Halenberg und ein trockenes Felseneck ohne GG-Bezeichnung abzufüllen. Das ist ja so, als gäbe es einen Montrachet auch ohne Grand Cru zum Preis eines Village-Weins. Wer hat sich denn den Humbug beim VDP ausgedacht? Und wer es nicht glaubt: Emrich-Schönleber füllt weiterhin einen „normalen“ trockenen Halenberg und einen Halenberg als Grosses Gewächs ab. Schäfer-Fröhlich nicht mehr. Und das ist gut so. So heißen seine Weine über den Gutsweinen jetzt Vulkanstein (ehemals Halenberg) und Schiefer (ehemals Felseneck). Und vor allem letzterer ist 2011 richtig geiles Zeug.

Der Riesling vom Schiefer von Schäfer-Fröhlich stinkt so wunderbar nach nasser Erde und Streichhölzern und ist dennoch so präzise in der Frucht, dass ich kaum den Mund zubekam. Und ob der „Stinker“ nun ein Hefeböckser oder echtes „Terroir“ ist, war mir herzlich egal. Ich mag das. Und dass Tim Schäfer-Fröhlich vielleicht vom Übervater der Mosel J.J. Prüm gelernt hat, dessen Weine eine ähnliche Stilistik aufweisen – so what? Denn man muss schon intelligent sein, um intelligent lernen zu können.

No win bei Winning

Was mich zum bereits erwähnten Negativbeispiel bringt: die Weine von von Winning wollen jetzt nämlich auch so einen „Stinker“ haben. Gemachte Stinker scheinen gerade trendy zu sein. Nur muss man es halt können. Die von Winning-Weine wirkten merkwürdig diffus und völlig zerrissen, während Schäfer-Fröhlich einfach strahlte. Ja, strahlte! Diese Weine sind klar und einfach animierend. Und – ohne den folgenden Wein hätte es die Trophäe „Kollektion der Weinbörse“ meinerseits auch nicht gegeben – am deutlichsten wird es bei seinem fruchtigen Kabinett aus dem Felseneck: was für ein sexy Stoff! Einfach ansetzen und runter damit und danach strahlen wie der Wein selbst. Bei 8,5% Alkohol ist Spucken nämlich verboten.

In meinen Gedanken habe ich meinen Keller schon mit einer erheblichen Menge dieses Weins aufgefüllt und hoffe, dass sie die nächsten 3 Wochen übersteht. Mir fiel beim Kabinett Felseneck von Schäfer-Fröhlich diese alte Schwazkopf-Haarspray-Werbung ein: ob Paris, New York oder Mailand. Die Frisur hält immer. Bei diesem Kabinett gilt: nach dem Sport, vor dem Essen oder einfach zum Frühstück: der Wein hält immer. Ich freue mich schon auf die Lieferung!

Kompass 4: die beste fruchtige Kollektion

Ich gebe zu, dass ich kein Fachmann für süsse Weine bin. Ich trinke sie von Jahr zu Jahr lieber, werde aber diese innere Stimme nicht los, dass trockener Wein schlank macht, während süsser Wein die Fettpolster auffüllt. Und in meinem Alter muss man auf so etwas achten.

Trotzdem interessieren mich jedes Jahr auf der Weinbörse auch die fruchtigen Weine, weil ich mit ihnen ein wenig abschätzen kann, wie die Säure des Jahrgangs ausfällt. Ist sie zu niedrig? Zu hoch? Geschliffen? Oder diffus? Die Kombination von Restsüsse und Säure ist da immer ein ziemlich guter Gradmesser.

Mein Verdacht, dass 2011 ein Jahrgang mit zu niedriger Säure oder der Tendenz zur Überreife sein könnte, hat sich glücklicherweise nicht bestätigt. Zumindest nicht im Basisbereich. Ob trocken oder fruchtig, die Weine sind herrlich balanciert und sehr animierend. War 2010 der Jahrgang der ausgereizten Ortsweine oder der Grossen Gewächse, weil erst sie wirklich zeigten, wie toll hohe Säure und hoher Extrakt harmonieren können, so ist 2011 der Jahrgang der Basisweine. Ohne großes Geld großen Genuss kaufen, besser geht es nicht!

Lieber Schloss Lieser

Aber ich wollte etwas zur Fruchtkollektion schreiben: Schloss Lieser! Ja! Da ist bereits der einfache Kabinett SL so vielschichtig und ausbalanciert, ohne in den Verdacht zu geraten, eine maskierte Spätlese zu sein. Eine wahre Freude! Ganz großes und trotzdem leises und leichtfüssiges Mosel-Riesling-Kino. Ob es da nach Schäfer-Fröhlich auch noch für ein paar Flaschen mehr von Schloss Lieser in meinem Keller reicht? Es wäre töricht wenn nicht.

Kompass 5: die beste trockene Kollektion

Als ausschließlicher Trockenwein-Produzent könnte man bei meinem Kompass leicht unter die Räder geraten. So habe ich Schäfer-Fröhlich aufs Podest gehoben, weil er die gesamte Bandbreite von trocken bis fruchtig-süß perfekt darstellt. Nun hätten aber Rheinhessen, die Pfalz und Baden hier keinerlei Chance, denn süß geht in diesen Regionen nur schwer. Deren Stärke ist und bleibt der trockene Wein.

Bernhard Huber zeigt jedes Jahr, wo in Baden der Weinhammer hängt. Seiner Stilistik folgend – viel Barrique und langes Lager – kann er auf der Weinbörse fast nur die Weine des Vorgängerjahrgangs 2010 zeigen. Trotzdem hätte ich Huber meinen Ehrenpreis übergeben, wenn da nicht dieser Stand mit den Weinen von BattenfeldSpanier und Kühling-Gillot gewesen wäre, zu welchen ich – zugegeben – auch privaten Kontakt pflege. Ein Stand und 8 verschiedene Rieslinge aus dem Jahr 2011. Jetzt könnte man meinen, die beiden Verheirateten übertrieben es mit der Differenzierung. Aber dem ist nicht so.

Neben den beiden trockenen Gutsweinen ist der feinherbe Riesling von Kühling-Gillot bereits jetzt eine animierende Pracht. Den Riesling Eisbach von BattenfeldSpanier hatte ich weiter oben schon erwähnt. Aber dann heißt es: Anschnallen! Oppenheim, Nierstein, Hohen-Sülzen und Mölsheim. Jeder der Rieslinge so unterschiedlich und ausziseliert, dass ich kaum glauben mag, dass sie aus einem Keller stammen.

Oppenheim und Nierstein

Der Oppenheim zeigt Frucht und wunderbare Mineralität, der Nierstein ist der klassische Vertreter des roten Schiefers mit herrlich animierender Würze, der Hohen-Sülzen vibriert im Mund dermaßen stark, dass mir die Ohren schlackern und ich zu spucken vergesse. Und dann ist da schließlich noch der Mölsheim Riesling, ein Ortswein auf Grossem Gewächs-Niveau. Für irgendetwas um 15 Euro gibt es nichts mit einem besseren Preis-Genuss-Verhältnis. Ich muss dringend Platz in meinem Keller schaffen.

 

Datum: 2.5.2012 (Update 6.1.2015)
 

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